Schwierige Gewinnschätzungen
Von Ivan Mlinaric, Geschäftsführer der auf Risikomanagement spezialisierten Quant.Capital Management GmbH
Gemessen an den gebündelten Gewinnschätzungen der Analysten, den sogenannten Konsensschätzungen, sind die Aktienmärkte derzeit teuer, aber nicht zu teuer. Dieser Aspekt wird oft vorgebracht, wenn Anlagestrategen weiterhin voller Überzeugung den Kauf von Aktien empfehlen. Die Frage, die sich uns stellt ist, wie weit man diesen Schätzungen vertrauen kann. Analysten neigen dazu, Gewinne systematisch entweder zu über- oder zu unterschätzen. Ein Risikoabschlag sollte deshalb vorgenommen werden.
Die Bewertung der Aktienmärkte basiert, vereinfacht gesagt, auf den Gewinnen der Unternehmen. Oder besser gesagt: auf der Prognose zukünftiger Gewinne. Investoren investieren ja schließlich für die Zukunft und nicht für die Vergangenheit. Dazu werden üblicherweise die Gewinnschätzungen vieler Analysten zusammengetragen. In der Öffentlichkeit wird häufig eine Mischung der Schätzungen der Gewinne für das laufende sowie für das kommende Geschäftsjahr, die sog. Forward Earnings, als Grundlage für eine Einschätzung der Märkte genutzt. Gemessen an diesen Gewinnschätzungen ergibt sich aktuell ein Forward-KGV des S&P 500 von etwas mehr als 21. Für den Dax beträgt dieser Wert aktuell knapp 14, für den EuroStoxx etwa 17.
Im historischen Vergleich sind diese Werte zwar hoch, aber noch ein gutes Stück entfernt von ihren historischen Höchstständen. Daher schätzen viele Anlagestrategen die Aktienmärkte als nicht übermäßig teuer ein. Die Bewertungen waren in der Vergangenheit ja auch schon mal höher, also hätten diese entsprechend noch Luft nach oben. Diese explodierten geradezu im vierten Quartal 2001 und erreichten in der Spitze 23 im S&P 500, 26 im Euro Stoxx 50 und fabelhafte 38 im DAX, bevor sie nach dem Platzen der Internetblase ebenso schnell wieder implodierten. Von solch extremen historischen Beispielen abgesehen, ist die wichtigste Frage aus unserer Sicht, wie sehr man den aktuellen Schätzungen vertrauen kann. Dazu haben wir eine Analyse der Gewinnschätzungen über die vergangenen 20 Jahre durchgeführt. Diese zeigt, dass Analysten die Unternehmensgewinne häufig stark über- oder unterschätzt hatten, je nachdem, ob im Markt gerade Euphorie oder Panik herrschte.
Quellen: Factset, eigene Berechnungen
Dabei neigten die Analysten im Durchschnitt eher dazu, die Gewinne zu überschätzen. Das verwundert nicht, denn Aktienmärkte sind Orte für Optimisten. Die mittlere Abweichung lag im Bereich von zehn bis 20 Prozent. Heute sind auch dank des umfassenden fiskalpolitischen Rückenwinds viele Marktteilnehmer besonders optimistisch. This time ist’s halt different. Diesmal wirklich! Die Dauer der aktuellen, konjunktur- und geldpolitisch gestützten Rally scheint das nahezulegen. Wir sind und da nicht so sicher, denn basierend auf den historischen Erfahrungen ist davon auszugehen, dass der Konsens die Unternehmensgewinne für das laufende sowie für das kommende Jahr deutlich überschätzt. Da die betrachteten Aktienmärkte sich aktuell von einem Hoch zum nächsten bewegen, gehen wir davon aus, dass die Analysten derzeit eher euphorisch justiert sein dürften. Bei einem daher angenommenen Schätzfehler von 20 Prozent lägen die aktuellen Unternehmensbewertungen dies- wie jenseits des Atlantiks durchaus im Bereich ihrer historischen Höchststände, zumindest dann, wenn wir von der einmaligen, kurzen Phase massiver Übertreibung im DAX Ende 2001 absehen.
Sind die Aktienmärkte also zu teuer?
Das muss nicht unbedingt der Fall sein, denn die politischen Rahmenbedingungen wie etwa die umfassenden fiskalpolitischen Maßnahmen, die ultralockere Geldpolitik sowie die extrem niedrigen Zinsen sind historisch einmalig. Vor allem die Null- oder Minuszinsen treiben die Nachfrage nach Aktien aufgrund von deren vermeintlicher Alternativlosigkeit. Hinzu kommt, wie in allen euphorischen Märkten eine Angst vieler Marktteilnehmer etwas zu verpassen, auf Neudeutsch Fear of Missing Out oder FOMO. Trotzdem sollten vor allem Investoren, die jetzt erst in Aktien einsteigen, wissen, dass die gekauften Aktien vermutlich deutlich teurer sind als angenommen. Das eingegangene Risiko dürfte also deutlich höher sein, als die augenscheinlichen Bewertungen dies vermuten lassen. Aus Risikosicht ist es anhand unserer Analysedaten angebracht, bei der Bewertung von Aktieninvestments Sicherheitsaufschläge von rund 20 Prozent vorzunehmen.